Dem Deutschen Volke

Dieser Zeitreise-Bericht entstand in einem Workshop mit zwei Geschichts-Leistungskursen der 11. und 12. Klasse des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums Zwickau vom 10. bis 11. Oktober 2022


Tagebuch-Eintrag vom 10. Oktober 2045

Wöchentliche Proteste versetzen die Stadt erneut in Aufruhr. Menschen stehen vor dem Reichstag und fordern mehr Partizipation. Die Polizei schlägt diese Demonstrationen gewaltsam nieder. „Dem Deutschen Volke“ steht auf dem Reichstag geschrieben. An diesen Leitsatz erinnert heute nur noch wenig.

Während die Reichen in ihren Vierteln auch nachts unbesorgt die Straße betreten können und tagsüber ihre verwöhnten Kinder auf die besten Schulen der Stadt schicken, hungert die ärmere Bevölkerung der Stadt „Unten“. „Unten“ wird der abgeschottete Bereich der Armenviertel genannt. „Unten“ ist dort, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Die Kriminalität ist hier hoch, Hygiene- und sanitäre Anlagen sind kaum vorhanden. Die Schulen sind veraltet, Bildung wird vernachlässigt. Es gibt keine Erneuerung, keine Innovation.

„Man vergisst uns“ rufen die Demonstrierenden vor dem Reichstag. Ihr Vorwurf: Die Regierung vertrete ausschließlich die Interessen der wohlhabenden Bevölkerungsschicht. „Alle Macht der Gesundheitspartei Deutschlands (GPD)“ ist in einem Fenster des Reichstagsgebäudes auf einem Banner zu lesen. Die Polizei zieht ihren Kreis um die Demonstrierenden immer enger…



Eine Szene, die sich im Jahre 2045 zugetragen hat…

1. Akt: Im Konferenzsaal der Bundespressekonferenz

 Handelnde Personen:  

  • Bundeswirtschaftsminister   
  • Hartmut Gundmar (Journalist  
    von der Gesundheitszeitung Bayern)  
  • Mohammed Ali (Journalist  
    von der Berliner Morgenpost)  
  • Polizist als Repräsentant der Exekutive  

Wir sind live bei der Pressekonferenz zu einer Gesetzesänderung der Regierung dabei, die im Reichstag stattfindet, während draußen die Demonstrierenden immer lauter werden.

Bundeswirtschaftsminister (gewichtig): Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind glücklich heute verkünden zu können, dass die Arbeitsnorm für die Bevölkerung erhöht wird. Dies bedeutet, dass die zu leistende Arbeit in der gleichen Arbeitszeit ansteigt. Und das wird zu einem riesigen Wirtschaftswachstum führen, von dem wir alle profitieren werden. Außerdem findet eine Erhöhung der Steuern statt. Ich stehe in meiner Tätigkeit als Bundeswirtschaftsminister gerne für Ihre Fragen zur Verfügung.

Hartmut Gundmar (hebt seine Hand): Gundmar von der Bayerischen Gesundheitszeitung. Wie sehr wird sich unser Wohlstand dadurch vergrößern?

Bundeswirtschaftsminister (lächelnd): Ich blicke einem starken Anstieg entgegen. Danke für die Frage.

Mohammed Ali (empört): Ali von der Berliner Morgenpost. Aber, Herr Minister, ist das nicht Verrat an der arbeitenden Bevölkerung?

Bundeswirtschaftsminister (ignoriert den Journalisten): Nächste Frage bitte!

Mohammed Ali (wird laut): Schämen Sie sich denn gar nicht?!

Hartmut Gundmar (unterbricht Mohammed Ali): Wann wird diese Wohlstandserhöhung spürbar sein? Genauso schnell wie die letzte?

Mohammed Ali (brüllt wütend): Das kann ja wohl nicht sein! Diese Regierung ist eine Schande.

Es kommt zu einem Aufruhr. Der anwesende Polizist greift ein und führt den aufbrausenden Journalisten aus dem Zimmer.

Bundeswirtschaftsminister (Kopf schüttelnd): Unmöglich diese Leute… (zu Gundmar) Sie hatten noch eine Frage, richtig?

Die Pressekonferenz geht ohne den kritischen Journalisten in gewohnten, ruhigen Bahnen weiter.


2. Akt: Vor dem Reichstag

 Handelnde Personen:  

  • Polizist  
  • Hartmut Gundmar (Journalist)  
  • Justus von Bülow (Passant)  
  • Demonstrierende aus der ärmeren Bevölkerung  
  • Eine Demonstrantin  

Wie es mit der Meinungsfreiheit an anderen Orten aussieht, erfahren wir später auch auf der lauten Demonstration vor dem Reichstag.

Hartmut Gundmar (zu einem Passanten vor dem Reichstag): Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?

Justus von Bülow nickt.

Hartmut Gundmar (hält ihm das Mikro hin): Wie bewerten Sie die neue Arbeitsnorm?

Justus von Bülow (freundlich): Ich finde sie ausgesprochen wohl überlegt.

Aus dem Hintergrund dringen wütende Rufe der Demonstrierenden, sie rufen „Nieder mit den Bonzen! In unseren Vierteln hungern die Leute!“. Ihre Rufe werden von Trommeln und Pfeifen begleitet.

Hartmut Gundmar (brüllt die Demonstrierenden an): Jetzt seien Sie doch mal still. Ich führe hier gerade ein Interview!

Er wendet sich wieder Justus von Bülow zu.

Hartmut Gundmar (betont freundlich): Sie gehören doch einer eher wohlhabenden Schicht der Bevölkerung an, nicht wahr? Was denken Sie, wie schnell können Sie in nächster Zeit Ihr Vermögen verdoppeln?

Justus von Bülow (nachdenklich). Nun ja…

Eine Demonstrantin (ruft aus der Menge und unterbricht Justus von Bülow): Ihr Scheißsystemmedien! Berichtet doch mal von den Zuständen bei uns unten!

Daraufhin greift die Polizei ein und nimmt die Demonstrantin unter Protest fest.

Justus von Bülow (wendet sich zurück an den Journalisten): Ich weiß ja nicht, was die Leute haben. Was war noch gleich Ihre Frage?

Doch wie sieht es in „Unten“ wirklich aus? Was sind die tatsächlichen Auswirkungen der neuen Arbeitsnorm auf die ärmere Bevölkerung?


3. Akt: „Unten“, dem Armenviertel

 Handelnde Personen:

  • Anna Müller (Mutter)  
  • Karl-Heinz Müller (Vater)  
  • Jaqueline-Chantal (Tochter)  
  • Jeremy-Pascal (Sohn)  

Karl-Heinz Müller, der Familienvater, kommt von der Arbeit nach Hause. Er sieht ziemlich fertig aus.

Anna Müller (drückt ihren Mann an sich): Na? Wie war dein Tag?

Karl-Heinz Müller (mürrisch): Durch die neue Arbeitsnorm noch länger und schlimmer.

Anna Müller (seufzend): Ach, du Armer…

Karl-Heinz Müller (murmelt): Ich geh jetzt schlafen. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht.

Anna Müller: Gute Nacht, mein Lieber.

Jaqueline-Chantal (zupft am T-Shirt der Mutter): Mama? Mama? Hast du noch was zu essen für uns?

Jeremy-Pascal (fragend): Ich habe Hunger, Mama.

Anna Müller (streicht ihrer Tochter über den Kopf): Tut mir leid, meine Süßen. Leider nicht. Ihr hattet doch heute schon euer Essen. Ihr wisst doch, dass es nur noch einmal am Tag eine Mahlzeit gibt.

Jeremy-Pascal fängt an zu weinen.

Anna Müller (tröstend): Die Zeiten sind halt gerade hart. Es wird auch wieder besser. Und jetzt seid ruhig, euer Vater muss morgen wieder 16 Stunden arbeiten.

Die Kinder ziehen ab, Anna Müller setzt sich seufzend an den Küchentisch und schaut gedankenverloren aus dem Fenster.