Alltag der Einheit

Ein Zeitreise-Bericht der Klasse 10-3 des Christian-Gottfried-Ehrenberg-Gymnasiums in Delitzsch

(Workshop vom 11. bis 12. Mai 2023)

Wir schreiben das Jahr 2045

Wir befinden uns in Shanghai. Im Lunisolarkalender sind schon einigen Zyklen vergangen, in Europa zählt man das 2045te Jahr. Viel hat sich seit der letzten Jahrtausendwende verändert.

Zwar gehen alle Kinder weiterhin zu Schule, müssen die Eltern arbeiten oder gehen für ihre Familien einkaufen. Doch was gelehrt, gesagt und gedacht wird, wird von Xin Wu – dem allmächtigen Anführer – diktiert. Außerdem herrscht Krieg. Die Große Nationale Volksarmee versucht, Gebiete in Europa zu erobern. Daher wird das Essen auch in China knapp. Immer wieder kommt es zu Unruhen und Protesten.

Doch für Recht und Ordnung sorgt die Einheitliche Sicherheitspolizei (ESP). Und wenn sich jemand diesen Regeln und vorgegebenen Gedanken nicht beugen möchte, folgen schlimme Konsequenzen.


Eine Szene, die sich im Jahre 2045 zugetragen hat…

1. Akt: Auf einer Straße in Shanghai

 Handelnde Personen:  

  • Soldaten  
  • Bürgerin   
  • Xi Ling – Oppositioneller   
  • Passanten   

Chin Lu, ein junger Student, tritt aus der Tür und sieht, wie zwei ESP-Soldaten einen Bürger brutal verhaften, nachdem dieser sich antikommunistisch geäußert hat. Anschließend laufen sie auf eine junge Frau zu.

Soldat: Guten Tag, junges Fräulein! Einmal den Ausweis, bitte.

Bürgerin: Alles klar.

Soldat: Name?

Bürgerin: Jacqueline.

Soldat: Alter?

Bürgerin: Dreißig.

Soldat: Geburtsdatum?

Bürgerin: 28. Mai 2015.

Soldat (freundlich): Okay, Sie können durchgehen. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag.

Bürgerin: Ihnen auch.

Die nächste Person in der Reihe wird kontrolliert.

Xi Ling (ruft wütend herum): Volk und Einheit, so eine Mist. Die vergiften doch nur unsere Gedanken! (an die Soldaten direkt gewandt) Ey Leute! (an die Bürger in der Schlange hinter sich) Ihr müsst aufwachen! Xin Wu – der vergiftet eure Gedanken, der will euch nur ausbeuten – der ist ein Faschist! (es kommt zu einem heftigen Wortwechsel)

Soldaten (schreiend): Auf den Boden! Sofort auf den Boden!

Passanten (rufen aus den Reihen): Richtig so! Volksverräter!

Soldaten (zu sich): Das ist der Typ von letzter Woche!

Der Soldat schlägt brutal mit einem Schlagstock auf Xi Ling ein.

Xi Ling: Hilfe, Hilfe!

Schließlich lässt der Soldat von Xi Ling ab und geht zu den anderen Soldaten. Xi Ling flieht so schnell ihn seine Beine tragen.


2. Akt: Im Klassenzimmer

 Handelnde Personen:  

  • Schüler  
  • Mr. Wong – Lehrer  
  • Chin Lun – Schüler  

Im Klassenzimmer unterrichtet ein Lehrer seine Schülerin “Rotkunde”, ein propagandistisches Fach über das Volk, Vaterland und dessen Armee. Ein Schüler kommt zu spät.

Die Schüler stehen vor dem Klassenzimmer und begrüßen einstimmig den Lehrer, welcher sie hereinbittet.

Alle Schüler: Guten Tag, Mr. Wong.

Mr. Wong: Guten Tag, treten Sie ein.

Schüler (einstimmig und euphorisch als Begrüßung vor der Nationalflagge): Volk und Einheit!

Mr. Wong (antwortend): Volk und Einheit!

Chin Lu kommt zu spät und grüßt nicht vor der Flagge.

Mr. Wong (verärgert): Wissen Sie, was mit dem Jungen vor zwei Wochen passiert ist?

Chin Lu (verängstigt und untergeben): Nein, Mr. Wong.

Mr. Wong (lauter): Er hat auch nicht gegrüßt vor der Flagge.

Chin Lu (immer stiller werdend, am Ende murmelnd): Tut mir leid, Mr. Wong.

Mr. Wong (wütend): Wissen Sie, wo er jetzt ist?

Chin Lu: Nein, Mr. Wong.

Mr. Wong (schreiend): Im Lager! Also grüßen Sie gefälligst!

Chin Lu (mit gesenkten Augen): Für Volk und Vaterland.

Mr. Wong: Aufstehen!

Die Nationalhymne erklingt, alle stehen auf und hören andächtig zu.

Mr. Wong (nachdem die Musik verstummt): Setzen. Willkommen. (zu einem Schüler in der ersten Reihe) Was haben wir heute für ein Fach?

Schüler: Rotkunde.

Mr. Wong: Sehr gut. Wer kann mir sagen, wo unsere Truppen heute stehen?

Schülerin: In Paris und im Großraum Madrid.

Mr. Wong (leicht verärgert): Ein bisschen genauer bitte.

Schüler (schnell antwortend): Paris ist gefallen.

Mr. Wong (stapft mit seinem Stab durch das Klassenzimmer): Wer kann mir sagen, wieviel Mann unsere Große Nationale Volksarmee umfasst? (an den Widersacher gewandt, wütend) Vielleicht weiß der Verräter es. Sprechen Sie!

Chin Lu (unterwürfig): 4,6 Millionen, Herr Wong.

Mr. Wong: Anscheinend kann er ja doch was. Dann danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Der Unterricht verlief – (an Chin Lu gewandt) bis auf wenige Störungen – sehr gut. Einen schönen Tag Ihnen noch.

Mr. Wong geht aus dem Klassenzimmer. Die Schüler verlassen ebenfalls das Klassenzimmer. Chin Lu überlegt verunsichert, ob sein Verhalten noch Konsequenzen haben wird.


3. Akt: An der Kasse

 Handelnde Personen:  

  • Mutter  
  • Achim – Verkäufer  
  • Kind  

Die Mutter betritt mit ihrem Kind einen Einkaufsladen. Im Hintergrund läuft angenehme Musik.

Achim (schreit): Melonen! Melonen! Im Angebot!

Mutter (zu ihrem Kind): So Kindchen, heute müssen wir mal einkaufen. (in Richtung des Verkäufers Achim) Guten Tag, Volk und Einheit.

Achim (freundlich): Einen wunderschönen guten Tag und herzlich willkommen im Grand Market. (laut) Volk und Einheit!

Achim (schrill rufend): Nur eine Mark die Melone, nur einen Entenzahn, nur für Sie!

Mutter: Kindchen, komm, wir müssen bezahlen.

Das Kind verweilt vor dem Verkäufer. Heimlich nimmt es eine Melone mit und legt es aufs Band. Der Kassierer scannt den Code der Melone.

Mutter: Aber wir können uns das nicht leisten, die Melone ist nicht in unserem Budget!

Achim (an die Mutter gerichtet): Das macht dann zehn Essensmarken.

Mutter (völlig verzweifelt): Nein, das geht nicht. Ich habe doch keine zehn Essensmarken.

Achim: Ach, gute Frau. Nehmen Sie die Melone als Geschenk. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!

Die Mutter kann ihr Glück nicht glauben, bedankt sich und schimpft mit ihrem Kind.

Lektorat: LK