Der amerikanische Traum

Ein Zeitreise-Bericht der Klasse FE 20a des BSZ Grimma vom 4. bis 5. Juli 2022


Wir schreiben das Jahr 2045

Die Schere zwischen Arm und Reich ist weit geöffnet: Während der wohlhabende Teil der Bevölkerung in den Genuss hervorragender Gesundheitsversorgung und Medikamente, guter Bildungseinrichtungen und gesunder Lebensmittel kommt, kann sich der arme Teil der Bevölkerung all das nicht leisten. Dort ist die Lebenserwartung niedriger, der Drogenkonsum höher und der Bildungsgrad der Menschen geringer. Lediglich der gesellschaftliche Zusammenhalt ist unter den Armen höher, während in den reichen Schichten ein stärkeres Konkurrenzdenken herrscht. Auch eine Mittelschicht existiert kaum noch, entweder sind die Menschen sehr wohlhabend oder äußerst arm. Die finanzielle Ausstattung der Menschen bestimmt beinahe alles.

Darunter fällt auch, wie viel politischen Einfluss die Menschen haben. Reiche Menschen besetzen nicht nur die wichtigsten Positionen in Staat und Gesellschaft, sondern haben sogar mehr Mitbestimmungs- und Bürgerrechte. Arme Menschen hingegen sind stark unterrepräsentiert und werden nur selten in bedeutende Ämter gewählt. Das liegt vor allem daran, dass nahezu das gesamte gesellschaftliche Ansehen vom materiellen Wohlstand der Menschen bestimmt wird. Wer viel Geld hat, gilt automatisch als erfolgreich und als guter Mensch.

Dieses gesellschaftliche Bild, nach dem Wohlstand und Erfolg einzig und allein auf den Fleiß und das Geschick des Einzelnen zurückzuführen sind, sorgt dafür, dass über die ganze Bevölkerung hinweg ein starker Glaube an die eigenen individuellen Aufstiegschancen herrscht. Selbst arme Menschen sind überzeugt, mit etwas Glück wohlhabend werden zu können. Unter ihnen herrscht hohe Motivation und eine „vom Tellerwäscher zum Millionär“-Mentalität. In dieser extremen Form des Kapitalismus ist demzufolge trotz großer sozialer Ungleichheit das Vertrauen in die Politik hoch. Schuld für die Probleme der armen Menschen sind nicht die Politiker, sondern die armen Menschen selbst. Politiker hingegen sind reich und gelten daher ganz selbstverständlich als vertrauenswürdig.



Eine Szene, die sich im Jahre 2045 zugetragen hat…

1. Akt: Am Wahltag

 Handelnde Personen:  

  • Daisy – Freundin  
  • Arielle – Freundin  
  • Parteivorsitzende  

Es ist Tag der Wahl. Die beiden Freundinnen Daisy und Arielle sind auf dem Weg zum Wahllokal.

Daisy: Na, Arielle, bist du schon aufgeregt?

Arielle: Wieso sollte ich aufgeregt sein?

Daisy: Na, weil du heute zum ersten Mal wählen darfst! Seitdem du 100.000 Euro im Jahr verdienst, hast du doch das volle Wahlrecht.

Arielle: Ach so, das meinst du. Ja, dass ich endlich wählen darf, finde ich schon cool. Aber so viel erwarte ich ehrlich gesagt auch nicht: Alle Parteien haben ja schon gesagt, dass das meiste beim Alten bleiben soll und reiche Menschen auch weiterhin Zugang zur besten Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten werden.

Daisy: Stimmt, eine große Auswahl gibt es auch bei dieser Wahl nicht. Aber ist ja auch gut so, die Armen müssen sich halt anstrengen, nichts ist umsonst.

Arielle: Genau. Hat bei mir ja auch geklappt.

Kurze Zeit später sind die beiden am Wahllokal angekommen. Noch direkt am Eingang laufen auf großen Bildschirmen Wahlwerbespots. Gerade wird der Spot der Partei WWW gespielt, in dem die Parteivorsitzende ein flammendes Plädoyer hält.

Parteivorsitzende: Es ist noch nicht lang her, da sind unsere Straßen von Chaos und Unruhe heimgesucht worden. Die großen Proteste im Jahr 2037 sind den meisten noch in lebhafter Erinnerung. Brennende Autos und Plünderungen waren damals an der Tagesordnung. Doch seitdem ist unter der Politik der WWW wieder Friede eingekehrt in unser Land! Alle Menschen, egal ob arm oder reich, bekommen inzwischen ihre gleiche Chance. Die Menschen haben begriffen, dass sich Leistung und Fleiß auszahlt und zu echtem Wohlstand und Erfolg führt! Jeder kann es schaffen in unserer Gesellschaft und ist seines eigenen Glückes Schmied! Wir haben das marode System des Wohlfahrtstaates abgeschafft und endlich echte Anreize für Erfolg geschaffen. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft weitergehen: Noch bessere Bildungsangebote und Gesundheitsversorgung für alle, die es sich selbst erarbeitet haben. Die besten Nahrungsmittel, Fernreisen und elektronischen Unterhaltungsprodukte für die, die es verdient haben. Und noch größere Anreize für alle, die bisher noch nicht 100 Prozent auf Arbeit gegeben haben. Wählen sie deshalb auch dieses Mal wieder WWW und wir werden dafür sorgen, dass auch in Zukunft…

Arielle: Siehst du, genau das meine ich. Hätte ich nicht vor fünf Jahren gemerkt, dass ich mit meinem mittelmäßigen Einsatz auf Arbeit nirgendwo hinkomme in diesem Land, würde ich immer noch in einem der Armenviertel wohnen. Doch seitdem ich weiß, dass Leistung belohnt wird, bin ich einfach durchgestartet.

Daisy: Ich bin wirklich froh, dass du es geschafft hast! Und ich glaube, die meisten armen Menschen haben es inzwischen auch verstanden. Proteste oder Demonstrationen haben ich jedenfalls schon sehr lange nicht mehr gesehen. Im Gegenteil: Letzte Woche kam ich auf dem Weg nach Hause bei einem Workshop vorbei, wo sich arme Leute gegenseitig ihre Business-Ideen vorgestellt haben. Ich hatte das Gefühl, dass sich da alle gegenseitig beim Erfolgreich-Sein unterstützt haben und das Mindset wirklich super war!


2. Akt: Auf der Straße

 Handelnde Personen:  

  • Arielle  
  • Nina  
  • Passanten  

Ein paar Wochen später ist Arielle, die seit kurzem in einem wohlhabenden Viertel wohnt, auf dem Heimweg. Auf einmal rutscht sie aus und stürzt.

Arielle: Ah, so ein Mist! Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht…

Um Arielle herum eilen eine ganze Menge anderer Passanten, alle von ihnen sind gut gekleidet und sehen generell wohlhabend aus.

Arielle: Hallo, Entschuldigung, kann mir vielleicht jemand hochhelfen? Ich bin gestürzt und schaffe es nicht allein.

Niemand hält an, stattdessen laufen die Passanten gehetzt und in Eile um Arielle herum. Arielle ist am Verzweifeln, als sie plötzlich ein bekanntes Gesicht in der Menge erblickt.

Arielle: Nina! Hey, Nina! Bist du es?!

Nina: Arielle?! Was machst du denn hier? Dich habe ich ja ewig nicht gesehen! Und wieso liegst du am Boden? Ist alles in Ordnung?

Arielle: Ich bin ausgerutscht und gestürzt. Ich glaube, dabei habe ich mir den Knöchel verstaucht und jetzt kann ich nicht mehr aufstehen. Kannst du mir vielleicht hochhelfen? Von den anderen Passanten hilft mir niemand…

Nina: Aber sicher doch! Komm her…

Arielle stützt sich auf Ninas Schulter ab und schafft es, langsam aufzustehen.

Nina: Irgendwie auch typisch, dass sich hier bei den Reichen wieder niemand gegenseitig hilft. Kein Wunder, sind ja auch alles solche Ellenbogen-Typen hier. Und jeder hat es eilig, weil irgendwo ein Geschäft wartet…

Arielle: Ja, stimmt schon, viele hier sind echt ganz schön im Stress. Aber schau doch, wie schön es hier ist!

Nina: Klar, ich würde auch gern hier wohnen. Aber ganz im Ernst: In unserem armen Viertel hätte es keine drei Sekunden gedauert, bis dir jemand hoch geholfen hätte! Ich habe von meiner Schwester gehört, dass du es in den letzten Jahren geschafft hast und jetzt richtig viel Geld verdienst. Finde ich richtig cool! Aber dass du trotz deines ganzen Geldes und Erfolgs hier auf der Straße liegen musst, wenn du mal stürzt, das finde ich schon krass!

Arielle: Klar, in unserem alten Viertel wäre das nicht passiert. Aber ich würde trotzdem nie wieder zurück gehen, auch wenn hier keiner hilfsbereit ist. Guck doch nur, was für eine coole Uhr ich mir letzte Woche gekauft habe!

Nina: Die ist echt ziemlich schick. Die muss ein Vermögen gekostet haben!

Arielle: Ach naja, das habe ich in drei Tagen verdient. Hör mal, würdest du mich vielleicht zum Krankenhaus begleiten?

Nina: Na klar, wir Kinder aus dem Viertel müssen doch zusammenhalten.

Arielle: Das ist so lieb von dir! Vielen Dank! Ich rufe mir nur schnell einen Krankenwagen, ich habe die Premium-Krankenversicherung. Da kannst mitfahren, eine Begleitperson ist inklusive.

Nina: Cool! Bei uns im Viertel gibt es keine Krankenwagen, weißt du ja bestimmt auch noch. Erst seitdem ich hier bei einem reichen Geschäftsmann putze, habe ich mal welche gesehen, aber mitgefahren bin ich noch nie!


3. Akt: Im Krankenhaus

 Handelnde Personen: 

  • Arielle  
  • Nina  
  • Ärztin  

Arielle und Nina werden vom autonom fahrenden Krankenwagen in die Klinik gebracht. Dort angekommen können sie zwischen zwei Eingängen wählen. Einer hat eine lange Schlange davor und ist dreckig, der andere sauber und gepflegt.

Nina: Hey, mit deiner Premium-Versicherung musst du bestimmt nicht den Eingang für die Armen nehmen, oder?

Arielle: Nein, wir nehmen den Eingang hier links. Danke nochmal, dass du mich begleitest! Ich hasse Krankenhäuser und bin echt dankbar, dass du dabei bist.

Nina: Klar, kein Problem. Wie gesagt, wir Kinder aus dem Viertel halten zusammen, auch wenn du es inzwischen raus geschafft hast.

Auf Nina gestützt geht Arielle durch den linken Eingang, wo ihr Gesicht gescannt und sie als Premium-Versicherte erkannt wird. Sofort kommt eine Ärztin zu den beiden.

Ärztin: Frau Arielle, der vollautomatische Krankenwagen hat Sie bereits angekündigt und ins System eingetragen. Seien Sie versichert, dass Sie mit ihrer Premium-Versicherung bei uns in den besten Händen sind! Sie bekommen die Priority-Behandlung und alle nötigen Fachärzte werden sofort zur Verfügung stehen.

Arielle: Vielen Dank Frau Ärztin, das freut mich zu hören. Ich kann Krankenhäuser wirklich nicht ausstehen und hoffe, dass ich so bald wie möglich wieder nach Hause kann.

Ärztin: Mit Ihrer Versicherung bekommen Sie das allerbeste Zimmer bei uns. Sie werden sich hier wie Zuhause fühlen und sofort vergessen, dass Sie überhaupt im Krankenhaus sind, das verspreche ich Ihnen.

Nach einer ersten Untersuchung wird Arielle von zwei für sie persönlich bereitgestellten Pflegern auf ihr luxuriöses Einzelzimmer gebracht. Nina begleitet Arielle noch immer.

Nina: Wow, wie schön das aussieht! Und wie viel Platz hier ist! Ich glaube, so groß war unsere gesamte Wohnung nicht, in der wir früher gewohnt haben.

Arielle: Klar, wer sich die Premium-Versicherung hart erarbeitet hat, der bekommt auch nur die beste Versorgung im Krankenhaus. Weißt du, wie viele Überstunden ich für das hier gemacht habe?

Nina: Natürlich, das hast du dir verdient. Ich hoffe, dass ich eines Tages auch mal so weit komme wie du. Ich weiß noch, als meine Mutter vor zwei Jahren gestorben ist, lag sie am Ende auch im Krankenhaus, aber es gab nicht genügend Ärzte und sie musste auf jede Behandlung ewig warten. Hätte sie im Job mehr Erfolg gehabt, wäre sie heute vielleicht noch am Leben.

Arielle: Siehst du, und deswegen ist es so wichtig, dass wir uns anstrengen und die Politik die Anreize erhöht, Leistung zu erbringen. Nur so geht es uns allen eines Tages besser!

Nina: Ja, wahrscheinlich hast du recht… Naja, ich denke, ich gehe dann mal wieder. Muss morgen wieder sehr früh auf Arbeit sein.

Arielle: Danke, dass du mir geholfen und mich begleitet hast! Was hältst du davon, wenn ich dir im Gegenzug demnächst mal ein paar Tipps gebe und dir erzähle, wie ich es damals zu Erfolg gebracht habe? Ich weiß noch, dass ich mir immer jemanden Erfolgreichen gewünscht habe, der mir Ratschläge gibt. Dann hätte ich die 100.000 Euro vielleicht schon im vorletzten Jahr verdient.

Nina: Klingt super! Das Angebot nehme ich gerne an!

Arielle: Dann melde dich doch gern bei mir, wenn du das nächste Mal etwas früher Feierabend bei deinem Putzjob hast. Dann lade ich dich zu mir ein, dann siehst du auch direkt, wofür sich der ganze Fleiß lohnt.

Nina: Abgemacht! Bis dann.


Redaktion: km