Verdrehte Realität

Ein Zeitreise-Bericht der Klasse BGY22G3 des BSZ Delitzsch vom 1. bis 2. November 2022

Eine Szene, die sich im Jahre 2045 zugetragen hat…

1. Akt: Auf dem Friedhof

 Handelnde Personen:  

  • Oma Sibylle  
  • Pfarrer  
  • Verkäufer  
  • Pfleger  

Eine Gruppe in dunkler Kleidung angezogener Menschen steht auf dem Friedhof im Kreis um ein frisches Grab.

Pfarrer: Helmut Hart, geboren 1960, ist nun im Jahre 2042 von uns gegangen.

Oma Sibylle (andächtig): Mein geliebter Helmut, nun bist du von mir gegangen. Ich hoffe, dass wir uns im nächsten Leben wiedersehen. (murmelt kaum zu hören vor sich hin) Er war immer für mich da. Ich muss nochmal in die Stadt und ein paar Blumen für sein Grab kaufen.

Pflegerin: In einer Stunde ist das Essen fertig. Kommen Sie bald wieder. Ihre Tochter wollte nachher noch vorbeikommen.

Oma Sibylle: Ich bitte Sie, ich bin doch immer pünktlich.

Oma Sibylle geht in die Stadt. Sie gehen an einem riesigen Billboard vorbei, daneben steht ein junger Mann mit Basecap an einem Verkaufsstand.

Werbemonitor-Stimme: Mit der neuen Brille in eine neue Realität! Jetzt aufsetzen und durchstarten! Testen Sie das Gerät kostenlos und entfliehen Sie für einen Moment den Mühen der Welt!

Oma Sibylle: Hmm, was ist das denn? Was für neumodisches Zeug gibt es denn heute wieder?

Verkäufer: Guten Tag, möchten Sie die neue Brille „Good Glasses“ von Jamie Shine ausprobieren? Damit erleben Sie eine neue Wirklichkeit. Alle Ihre Träume und Wünsche können Sie damit erfüllen. Das ist ein Geschenk unseres Präsidenten, der möchte, dass die Menschen mehr Freude am Leben haben. Deshalb hat er die Brille entwickeln lassen.

Oma Sibylle: Das klingt ja unglaublich. Aber wie soll das funktionieren? Ich wünsche mir so sehr meinen Mann zurück, der kürzlich verstorben ist. Junger Mann, können Sie mir sagen, ob ich ihn damit wiedersehen kann?

Verkäufer: Aber natürlich. Probieren Sie es aus. Die virtuelle Realität macht es möglich. Sie brauchen nur ein paar alte Bilder mit Hilfe der eingebauten Kamera einlesen und unsere künstliche Intelligenz lässt Ihren Mann wieder zum Leben erscheinen. Unserem Präsidenten liegt das mentale Wohlergehen der Gesellschaft sehr am Herzen, besonders in solch schwierigen Situationen sollten Sie die „Good Glasses“ ausprobieren.

Oma Sibylle: Oh, wie nett unser Präsident doch ist. Er kümmert sich um die Leute, sonst ist doch alles so digital entpersonalisiert heute. Ich nehme gerne eine Brille und probiere sie zuhause aus.  

Verkäufer: Viel Freude damit!

Oma Sibylle nimmt eine der Brillen mit einem knappen „danke“ mit und schwankt auf dem Heimweg zwischen unwiderstehlicher Hoffnung und üblichem Misstrauen gegenüber neuen Erfindungen, die in ihren Augen doch meist unnütz sind.


2. Akt: Im Altersheim

 Handelnde Personen:  

  • Oma Sibylle  
  • Pflegerin  
  • Helmut – virtueller Avatar  

Schließlich kommt Oma Sibylle in gewohnt langsamer Geschwindigkeit im Altersheim an und trifft ihre sichtlich erleichterte Pflegerin.

Pflegerin: Hallo, da sind Sie ja. Ich wollte schon eine digitale Suchanfrage an die Überwachungsbehörde der Stadt schicken, um Sie zu orten. Man weiß ja nie, was so passieren kann.

Oma Sibylle: Nicht nötig! Sie glauben ja gar nicht, was für einen jungen charmanten Mann ich da heute getroffen habe. Der hat mir eine neue Brille mitgegeben, mit der die Menschen dem Alltag entfliehen können und ihre Träume wirklich werden lassen. So etwas soll der Präsident für uns entwickelt haben.

Pflegerin: Lassen Sie sich lieber nicht auf dieses Zeug ein. Ich bin ja auch für digitale Lösungen, doch das geht zu weit. Damit werden wir doch emotional abhängig gemacht.

Oma Sibylle (verträumt): Ich wünsche mir doch nur so sehr, meinen Helmut nochmal zu sehen. All die Versprechungen der Medizin, dass er noch länger leben würde, haben sich doch nicht erfüllt. Jetzt will ich zumindest diese Hoffnung nicht verlieren.

Pflegerin (unwirsch): Hier ist ihr Mittag. Denken Sie daran, dass später noch Ihre Tochter zu Besuch kommt. Legen Sie sich davor noch einmal hin.

Die Pflegerin geht etwas genervt aus dem Raum. Oma Sibylle nimmt die neue Brille in die Hand.

Oma Sibylle: Jetzt muss ich das gleich mal ausprobieren. Der junge Mann sagte doch, dass alle Träume hiermit real werden.

Sie hält ein paar Fotos von ihrem geliebten Helmut vor die Kamera der Brille, setzt sie sich vorsichtig auf und schaut sich um.

Oma Sibylle: Helmut, bist du das? Tatsächlich. Und so jung wie damals, als wir uns kennenlernten. Du bist ja so schön!

Helmut: Meine Sibylle. So jung und hübsch bist du wie an jenem Tag, an dem wir geheiratet haben. Darf ich dich nochmals zum Tanz bitten?

Oma Sibylle: Ja, wie damals. Wie sehr wünsche ich mir diese Zeiten zurück, wir konnten unser Leben voll und ganz gestalten. Wer weiß, was unsere Kinder nun noch erleben müssen.

Die Pflegerin und Sibylles Tochter kommen ins Zimmer und sehen Sibylle mit der Brille im Bett liegen.

Tochter: Mutter, was ist denn mit dir, wieso liegst du mit dieser Brille im Bett? Antworte. (ruft laut) Oh nein, sie atmet nicht mehr. Die virtuelle Realität muss sie überfordert haben.

Pflegerin: Und ich hatte ihr noch gesagt, dass sie damit aufpassen soll. Das wird uns eine Lehre sein. So leicht sollten wir uns nicht dieser Technik hingeben.

Tochter (traurig): Zumindest sieht sie zufrieden aus. Hoffentlich konnte sie so zumindest in Frieden von uns gehen.

Pflegerin: Ich gehe und rufe den Pfarrer. Der bekommt wohl heute noch etwas zu tun.

Kopfschüttelnd verlässt die Pflegerin das Zimmer, während Oma Sibylles Tochter die ersten Tränen über die Wangen laufen.


3. Akt: Im Altersheim und im Filmstudio

 Handelnde Personen:

  • Pfleger  
  • Jamie Shine – Präsident  
  • Berater des Präsidenten  
  • Tontechnikerin  

Die Pflegerin läuft an dem zu ihrem Leidwesen immerzu laufenden Online-Screen vorbei und schaut skeptisch auf ein Werbevideo mit Präsident Jamie Shine.

Jamie Shine: Kauft meine Good Glasses! Vertraut mir und der Technik. Mit ihr werdet ihr glücklich und vergesst eure Sorgen. Ich sorge für alles und ihr könnt genießen.

Die Pflegerin geht schnell weiter, sie kann das nicht mehr hören. Wenige Kilometer entfernt in einem Filmstudio hat Jamie Shine seine Live-Sendung beendet und dreht sich zu seinem Berater.

Jamie Shine: Bald bin ich am Ziel meines Plans, dann habe ich die absolute Macht. Wer sich einmal an meine Virtual-Reality-Brillen gewöhnt hat, der möchte sie nicht mehr weggeben.

Mit einem Augenzwinkern zu seinem Berater verlässt er das Studio. Eine Tontechnikerin schaut ihm verunsichert hinterher – bei allen Vorzügen der neuen Technik, ist das die Zukunft, die sie sich immer gewünscht hat?


Redaktion: sm, tm.